Sonntag, 4. Dezember 2011

Liebe Familie Wolf,

es hat mich sehr traurig gemacht, dass Ihre Frau, Mutter und Großmutter Christa Wolf am Donnerstag gestorben ist. Mit gerade 28 Jahren gehöre ich vielleicht zu einer jüngeren Gruppe von Lesern, dennoch haben mich ihre Werke in den letzten vier Jahren berührt wie kaum ein anderer Autor es vermochte.

Da erstand sie wieder, die Heimat, die ich nur einem dumpfen Gefühl nach vermissen kann, da setzte eine mutige, keine Auseinandersetzung scheuende Frau in Worten um, was erst allmählich an mein Bewusstsein dringt: Dass wir bleiben müssen und in uns gehen, dass wir immer wieder zu zweifeln und zu hinterfragen haben, was unseren Gedanken zugrunde liegt.

Ich bewundere, mit welcher Kraft Christa Wolf ihren ganz persönlichen Diskurs mit uns Lesern teilte (und teilt), wie sie ihre intimsten Gedanken literarisch aufarbeitete und damit prüfte, ob sie vor der öffentlichen Kritik bestehen konnten. Man könnte fragen: Wenn ein Satz, eine Passage vor Christa Wolfs Selbstkritik bestand, was hatte er in der Welt zu befürchten? Dennoch scheint es, sie habe die Relevanz, die Berechtigung ihrer Worte immer wieder zu Diskussion gestellt, für sie gekämpft, sie verteidigt.

Hatte sie das nötig, und was trieb sie an, immer wieder klein zu werden vor sich und dem Publikum? In den Nachrufen ist viel von der persönlichen Beziehung zu den Lesern die Rede, entstanden dadurch, dass Christa Wolf die individuelle Gefühlswelt ins Verhältnis zu gesellschaftlichen Prozessen setzte. Nun, was im kleinen stattfindent, bildet sich im großen ab, und für mich schrieb sie aus dem tiefen Verständnis dieses Zusammenhangs.

Meine persönliche Beziehung zu Christa Wolf ist geprägt von ihrem Trotz, ihrem Unwillen, etwas zu glauben, dass sie nicht zuvor sorgfältig geprüft und an ihrem eigenen Erleben bestätigt gefunden hatte. Von ihrer Bereitschaft, immer wieder den schwierigsten Weg zu wählen, die schmerzhaftesten Fragen zu stellen, und sich mit den vermeintlich großen zu überwerfen. Von ihrem unerschütterlichen menschlichen Kern.

Sie offenbarte mir in ihren Büchern ihre liebevolle, oft ironische Spiritualität und einen starken Glauben, woran? Dass man anschreiben kann gegen Feigheit und Lügen, dass Worte gehört werden, wenn man sie ausspricht, dass es einem selten von anderen gelohnt wird, wenn man bleibt und für seine Überzeugung einsteht. Dass man auch daran wächst, Verantwortung für die eigenen Irrtümer und Unzulänglichkeiten zu übernehmen.

In einer Zeit, als ich mich identitäts -, ja heimatlos fühlte, gaben ihre Gedanlen mir neuen Boden und die Zuversicht: Diese Gefühle sind zu bändigen, und eine Heimat haben wir dort, wo wir sie gestalten. Ich habe in Christa Wolf eine Freundin, Weggefährtin und Seelenverwandte gefunden, als ich zu fragen begann, und es tröstet mich ein wenig, dass sie ihren Weg beschließen durfte, dass sie sich auf den Tod vorbereiten konnte, dass 'man' sie zu Ende schreiben ließ.

Mit Christa Wolf verliere ich einen Menschen, der wie kein anderer aus der Tiefe meiner Seele zu mir sprach. Zu ihrem Tod möchte ich Ihnen als Familie mein tiefes Mitgefühl und mein herzliches Beileid ausdrücken.

Ihr Rübefrei

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