es hat mich sehr traurig gemacht, dass Ihre Frau, Mutter und Großmutter Christa Wolf am Donnerstag gestorben ist. Mit gerade 28 Jahren gehöre ich vielleicht zu einer jüngeren Gruppe von Lesern, dennoch haben mich ihre Werke in den letzten vier Jahren berührt wie kaum ein anderer Autor es vermochte.
Da erstand sie wieder, die Heimat, die ich nur einem dumpfen Gefühl nach vermissen kann, da setzte eine mutige, keine Auseinandersetzung scheuende Frau in Worten um, was erst allmählich an mein Bewusstsein dringt: Dass wir bleiben müssen und in uns gehen, dass wir immer wieder zu zweifeln und zu hinterfragen haben, was unseren Gedanken zugrunde liegt.
Ich bewundere, mit welcher Kraft Christa Wolf ihren ganz persönlichen Diskurs mit uns Lesern teilte (und teilt), wie sie ihre intimsten Gedanken literarisch aufarbeitete und damit prüfte, ob sie vor der öffentlichen Kritik bestehen konnten. Man könnte fragen: Wenn ein Satz, eine Passage vor Christa Wolfs Selbstkritik bestand, was hatte er in der Welt zu befürchten? Dennoch scheint es, sie habe die Relevanz, die Berechtigung ihrer Worte immer wieder zu Diskussion gestellt, für sie gekämpft, sie verteidigt.
Hatte sie das nötig, und was trieb sie an, immer wieder klein zu werden vor sich und dem Publikum? In den Nachrufen ist viel von der persönlichen Beziehung zu den Lesern die Rede, entstanden dadurch, dass Christa Wolf die individuelle Gefühlswelt ins Verhältnis zu gesellschaftlichen Prozessen setzte. Nun, was im kleinen stattfindent, bildet sich im großen ab, und für mich schrieb sie aus dem tiefen Verständnis dieses Zusammenhangs.
Meine persönliche Beziehung zu Christa Wolf ist geprägt von ihrem Trotz, ihrem Unwillen, etwas zu glauben, dass sie nicht zuvor sorgfältig geprüft und an ihrem eigenen Erleben bestätigt gefunden hatte. Von ihrer Bereitschaft, immer wieder den schwierigsten Weg zu wählen, die schmerzhaftesten Fragen zu stellen, und sich mit den vermeintlich großen zu überwerfen. Von ihrem unerschütterlichen menschlichen Kern.
Sie offenbarte mir in ihren Büchern ihre liebevolle, oft ironische Spiritualität und einen starken Glauben, woran? Dass man anschreiben kann gegen Feigheit und Lügen, dass Worte gehört werden, wenn man sie ausspricht, dass es einem selten von anderen gelohnt wird, wenn man bleibt und für seine Überzeugung einsteht. Dass man auch daran wächst, Verantwortung für die eigenen Irrtümer und Unzulänglichkeiten zu übernehmen.
In einer Zeit, als ich mich identitäts -, ja heimatlos fühlte, gaben ihre Gedanlen mir neuen Boden und die Zuversicht: Diese Gefühle sind zu bändigen, und eine Heimat haben wir dort, wo wir sie gestalten. Ich habe in Christa Wolf eine Freundin, Weggefährtin und Seelenverwandte gefunden, als ich zu fragen begann, und es tröstet mich ein wenig, dass sie ihren Weg beschließen durfte, dass sie sich auf den Tod vorbereiten konnte, dass 'man' sie zu Ende schreiben ließ.
Mit Christa Wolf verliere ich einen Menschen, der wie kein anderer aus der Tiefe meiner Seele zu mir sprach. Zu ihrem Tod möchte ich Ihnen als Familie mein tiefes Mitgefühl und mein herzliches Beileid ausdrücken.
Ihr Rübefrei
ruebefrei - 4. Dez, 14:55
"So endet die Geschichte dieser Frau, die mitten in der Welt nichts wußte von der Welt; die - wie nur je eine Frau - geschaffen war zur Gattin und zur Mutter und doch weder Mann noch Kinder hatte."
Und so endet sie eben auch nicht. Madame ist 32 Jahre alt und hat einen Geldschatz zur Verfügung, der im Frankreich des frühen 19. Jahrhunderts einem Wert von einigen Milliarden in heutiger Hand entsprochen haben dürfte. Was tut sie im Alter von 32 Jahren mit einigen Milliarden? Sie vergütet die gute Nanon, de Grassin und den Cornoiller, stiftet für gute Zwecke. Und dann? Sie verwaltet, investiert, handelt, spart. Und spart sich, wie es sie der Vater gelehrt, die Heizung, bis zum ersten Frost im November.
Ein durch blutrünstigen Geiz zusammengerafftes Erbe antreten heißt diesen Geiz übernehmen, der aus jeder Testamentszeile spricht, der von jedem Goldstück tropft. Dieses Erbe verpflichtet, und was der Vater seinen nächsten vom Maul abgespart, spart sich nun die reiche Erbin: die (wie sollte es anders sein) Liebe.
Ihr Vater ließ sie hungern und frieren, während er nachts seine Goldtaler zählte; Nun friert sie und wird nicht satt. Ihr Vater hieß sie seine Röcke flicken, und bis zu ihrem 23. Lebensjahr kannte sie von der Welt nur den trostlosen Blick auf jene Straße, wo alle Stunde gerade ein Mensch vorüberging; Heute verwelkt sie auf ihrem Besitz. Ihr Vater versagte ihr die Liebe ("Sehen Sie, ich würde meine Tochter lieber in die Loire werfen als sie ihrem Cousin geben."), und nach seinem Tod erträgt ihr eingeschnürtes Herz den Fluch des Erdenlebens allein.
Wie kommt sie da wieder raus, wie wird aus Mme Grandet wieder eine fühlende Eugénie?
Wenn M. Grandet - und es gibt viele Landedelleute, die es nicht anders machen - nur seinen schlechten Wein trank und seine faulen Früchte aß, so kocht mein Vater sich Wassersuppe aus teils selbstgezogenem Wurzelgemüse und nennt das mit leuchtenden Augen ein Festessen, das er mit Gurkenwasser würzt, hoch lebe die Nachkriegszeit.
Eines Tages werde ich ein paar hunderttausend erben, die mein Vater mit unserem Unglück erkauft hat. Die er hegt und hortet und niemals rausrückt, mich jahrelang unter der Armutsgrenze leben ließ, im innersten zufrieden, dass da keine Ansprüche kamen, denn er hatte mir die Ansprüche nie beigebracht, mir meine Wünsche aus dem Kopf geschlagen. Wie werde ich mich fühlen, wenn er, vom Tod dazu gezwungen, dieses Blutgeld zurückzahlt?
Noch heute wird mir kalt und ich muss zittern bei dem Gedanken daran, wie ich meine Unterschrift für irgeneine Kapitalanlage meines Vaters hergeben musste. Ich habe meinen Namen in den Dienst seiner Gier gestellt, er missbraucht ihn wahrscheinlich noch immer, und er hätte mir vielleicht sogar ein paar Sous geschenkt, wäre ich ihm dafür nur ein einziges Mal mit Dankbarkeit begegnet.
Wie komme ich da wieder raus, wie wird aus mir wieder ein fühlender Mensch?
Die rote Kraft würde sagen: Sie müssen den Schmerz annehmen, ohne den gibt es keine innere Stärke. Sie werden diese Erniedrigungen und Verletzungen nicht ungeschehen machen, das können Sie vergessen. Und so komme ich da wieder raus: Ich kaufe mir, was ich mir wünsche, entgegen aller Schuldgefühle, ich verdiene mein eigenes Geld und schlage mindestens das geistiges Erbe meines Vaters aus. Damit meine Geschichte nicht so endet wie Eugénie's, die sich mit 32 Jahren die Welt leisten konnte, aber nichts besaß, für das sie in ihr lebte.
ruebefrei - 7. Jan, 00:03
nein, bleiben sie bitte jetzt, ja, genau, so stellen wir uns das vor. sie ahnen es nicht, sie sollen es auch nicht ahnen, lehnen sie sich zurueck, genießen sie - im grunde, wenn sie moegen, oder im grund.
wir, wer genau im uebrigen, sei dahingestellt, wir jedenfalls tragen die volle verantwortung, voller ueberraschungen, haben wir die taschen voll, die hosen meinethalben, sie schmunzeln, meine sehr verehrten - aber es ist so, so ist es und so wars, heut wie immerdar.
da kommen die zweifler, die zweifler kommen noch immer puenktlich wie ein schweizer fernverkehrszentrum, man koennte die uhr nach ihnen stellen und sie in eben jenen fernverkehrszentren aufhaengen, nach denen sie kommen.
so puenktlich sie kommen, so gehen sie auch. sie ahnen noch immer nicht - und das ist auch gut so - was sie da verpassen. wo, werden sie berechtigterweise fragen, und wir werden sie auf ein andermal vertroesten, vielleicht, wenn im land der fruehaufsteher die haehne vor den bettpfosten ihrer bereits erstandenen herrschaft zu kreuze kriechen.
bis dahin kraechzen wir ihnen unser leid, lied, verzeihung, wie kommt nur dieser dreier, dreher da hinein, muessen entschuldigen, halten zu gnaden oder auch nicht.
wir jedenfalls haben nichts mehr zu sagen, geschweige denn zu sagen gehabt. geschrieben haben wir trotzdem, denn dafuer muss man laengst nichts zu sagen haben.
ruebefrei - 7. Feb, 21:00
Samstag war es, ein verregneter Sommerabend, der sich fahlgrau in die Länge zog. Obschon es vor den Fenstern unaufhörlich plätscherte, öffnete sie die Flügel, soweit es ging, sie atmete die Frische und scherte sich nicht um die Traurigkeit, die ebenfalls hereinströmte.
Sie hieß Lydia, ihre Freunde nannten sie Lyd, Lyd, lass nichts anbrennen, Bis dann, Lyd, Hi Lyd, schön dich zu sehen. Lyd liebte den Regen: Er wusch den Dreck von den Straßen, trieb die Zuckermenschen unter Markisen und Balkone, in ihre Häuser, heute brachte er die langersehnte Abkühlung und löste die Schwüle des Vormittags in seinen Tropfen auf.
Lyd schloss die Augen: Vor einer Woche hatten sie sich kennengelernt, bekannt gemacht, ihr Name war Amber und ging ihr unter die Haut. Amber, hatte das Mädchen gelächelt und ihre Hand genommen, so als stünde der Name für sich. Ihr spanischer Akzent hatte sich in das Englisch gemischt, als sie von ihrem Studium in Mexiko berichtet hatte, wie sie sich über das Stipendium freute, wer könnte es sich sonst leisten, auf eine Summer School nach Europa zu fahren. Zwei Wochen Vorträge, Seminare und Kolloquia über das Migrationsverhalten der Schwarzstörche lagen vor Amber, Populationsrückgang und Artenschutz, dazwischen Ausflüge in das nahgelegene Naturschutzgebiet und ein buntes Abendprogramm.
Lydia hatte dabei geholfen, den Empfangsabend für die Gäste zu planen, sie hatte für Tischdecken, Servietten, ein kleines Buffet gesorgt und zurückhaltenden Jazz aufgelegt, der die Gäste in den ehrwürdigen Fakultätsräumen begrüßte. Sie hatte Amber von dem Moment an geliebt, als sie in ihrem weißen Sommerkleid zwischen den Marmorsäulen erschienen war, auf sie zugeweht war und ihr aus seidenbraunen Lippen zugehaucht hatte: Amber. Sie hatte gelacht und mit ihren schwarzen Locken die Verlegenheit aus Lydias Gesicht geschüttelt, bis auch sie schüchtern lächelte: Lyd.
Lyd streckte die Beine aus und erhob sich von der Fensterbank, glitt zurück in das Zimmer und schaltete die Stehlampe ein. Orangegelbes Licht schien an den Wänden empor, sie seufzte und ging in die Küche, um eine Tasse Kakao zu kochen.
Mit dem Abend wusste sie nichts weiter anzufangen, als gedankenverloren aus dem Fenster zu starren. Studium und Freunde lagen in einer fernen Welt, einer Sommerwelt, von der keine Stimmen durch den Regenvorhang zu ihr dringen konnten. Von Amber hatte sie keine Nachricht erhalten, ihr Stundenplan war sicherlich ausreichend gefüllt: Nach den Nachmittagskursen erkundete sie die Stadt und fiel abends todmüde in ihr Bett. Lyd brachte den Mut nicht auf, ihr zu schreiben, und so blieb ihr nur die Erinnerung an die kurze Begegnung zwischen den Cocktailtischen, was erhoffte sie sich von Amber, einer flüchtigen Bekanntschaft, mit der man sich einen Augenblick lang austauschte, bevor man höflich seiner Wege ging?
Am Sonntag kehrte die Hitze zurück, der durchtränkte Boden verdampfte noch am Morgen seine Feuchtigkeit. Sonnenstrahlen brachen sich in den Marmeladengläsern auf dem Frühstückstisch, rot gelb und dunkelkirsch, bis Lyd sie entschlossen verschraubte und zur Seite stellte. Die Freunde riefen an, Lyd, wir fahren ins Freibad, an den See, kommst du mit? Erleichtert über die Ablenkung, fischte sie den Bikini aus dem Wäschekorb, was solls, der Sommer ist die falsche Jahreszeit, um ihn zu Hause zu verträumen.
Ihre Haare raffte sie im Flug zu einem Knoten, rollte gekonnt den Haargummi darüber und prüfte das Ergebnis im Spiegel: Wie gewohnt hingen drei freche Strähnen in die Stirn, die waren zu kurz, als dass der Zopfhalter sie bändigen konnte, aber lang genug, damit der Fahrtwind sie in alle Himmelsrichtungen verwirbelte, wenn sie auf ihr Fahrrad stieg.
Lyd liebte ihr altes Fahrrad, gute zwei Jahre trug es sie nun in seinem grüngelben Ringelkleid kreuz und quer durch die Stadt, aus dem Hof auf den Gehsteig, Seitenstraße, Kopfsteinpflaster bis an die Straßenbahngleise, die man vorsichtig zu überqueren hatte. Mit quietschendem Gepäckträger radelten sie nun stadtauswärts, wo die Allee begann, Licht und Schatten tanzten im Wechselspiel auf dem brüchigen Chrom und den matten Reflektoren.
Lyd hätte den Lieblingsweg über die Felder gewählt, wäre es nicht bereits jetzt, um elf, so drückend heiß gewesen. Doch auch hier, auf der Landstraße, gleißte das Korn zwischen den Schattenbäumen hindurch, auf deren Rinde man mattweiße Warnstreifen getüncht hatte, wegen der Raser, die hier regelmäßig zu Tode kamen.
Im Freibad herrschte bereits Hochbetrieb: barfüßige Schlangen standen vor den Toiletten und vor dem Eisverkäuferhäuschen, Jugendliche stürzten sich in allerlei Verrenkungen von dem Sprungturm, welchen man in sicherer Tiefe in den Gewässergrund getrieben hatte, die Familien picknickten auf ihren Decken und hielten die Strandkörbe und schattigen Rasenplätze mit ihren Handtüchern besetzt.
Vom Strand aus winkten die Freunde, schaut mal, Lyd ist da, hey Lyd, wie gehts, steig aus den Klamotten und spiel mit uns Frisbee, oder nimm dir ein Bier. Sie pellte sich das verschwitzte Hemd vom Körper, sprang aus der Hose und zupfte den Bikini zurecht, ich muss erstmal ins Wasser, mich abkühlen, lachte sie. Die Tage am Baggersee vergingen leicht wie eh und je, man briet in der Sonne, sprang in den See, wenn der Kopf dröhnte und die Haut zu brennen begann, man aß Brote, plauderte und spuckte Kirschkerne umher.
Was erwartete sie von Amber, und was wünschte sie sich insgeheim? Dass sie wegen ihr in der Stadt blieb, dass sie Freunde würden für ein Leben, nebeneinander aufwachten und sich in die Arme schlossen? Aus den Augenwinkeln suchte sie den Strand nach ihr ab, nach einer nur annähernd so seidigen Bräune. Stattdessen lagen dort pigmentarme Mitteleuropäer und fingen Sonnenstrahlen mit ihrer bleichen Haut.
Schaut mal, Lyd träumt, hey Lyd, Kopfkino, oder was? Vor ihr baute sich Uwe auf, der stand seit der Oberstufe auf sie, der wollte einfach nicht einsehen, dass sie nichts für ihn empfand, wenn man von verhaltener Belustigung über seine Sprüche absah. Ach hallo Uwe, hast du sie wieder rauswachsen lassen, deutete sie auf das dunkle Haargekräusel auf seiner Brust, angelte das Portemonnaie aus dem Strandbeutel und stand von der Decke auf: Will noch jemand ein Eis?
Ich komme mit, rief Anni, und im Gleichschritt stolzierten sie den Strand hinauf, schritten ein wenig verführerischer aus als nötig und wussten, ohne sich umzusehen, die Mehrheit der Männerblicke auf ihren Bikinislips, Annis blaugeblümt und Lyds schwarz. Seit dem Kindergarten waren sie ein Herz und eine Seele, zusammen fühlten sie sich unerrreichbar für den Rest der Welt.
Was ist los?, fragte Anni, als sie in der Eisschlange warteten, und bedachte ihre Freundin mit einem kurzen, prüfenden Blick: Unglücklich verliebt oder schwanger oder beides? Lyd blickte zu Boden, vor Anni konnte sie nichts verbergen, die blickte ihr durch die Augen direkt in die Seele. Ich glaub ich in bi, stammelte sie und lief rot an. Na dann, lachte Anni und küsste sie auf den Mund, Lyd riss die Augen auf: Spinnst du, doch nicht hier!, dann fielen sie sich prustend um den Hals.
Sie kauften zweimal Schoko und Erdbeer und setzten sich unter den Schirm auf die Terasse. Wie ist sie so?, bohrte Anni weiter und kicherte. Zwischen Lydias Sommersprossen zeichnete sich eine leichte Röte ab, auch auf den gesprenkelten Schultern und im Nacken spannte die Haut. Heute abend werde ich wieder glühen wie ne Tomate, seufzte sie und leckte ein rosa Rinnsal von der Eiswaffelspitze. Braun ist sie, antwortete sie schließlich, und vertiefte sich in ein Lächeln.
Was immer Lyd in den folgenden Tagen unternahm, Amber ging ihr nicht aus dem Kopf. Die Unruhe trieb sie soweit, dass sie den Raumplan der Gaststudenten erfragte, Ja, Frau Liebhardt, ich muss dem Professor noch ein Buch zurückgeben, er möchte es persönlich entgegennehmen, wissen Sie zufällig, in welchen Räumen er diese Sommerkurse hält, ja, nein, natürlich werde ich in einer Veranstaltungspause an ihn herantreten.
Sie fieberte vor dem Seminarraum, drinnen dozierte monoton eine Männerstimme, draußen schämte sich Lyd wie ein ungezogenens Kind vor dem Lehrerzimmer. Eine Viertel, Halbe, Dreiviertelstunde verging, es war zwecklos, Blockseminar, die kamen vor dem Abend nicht heraus. Bis dahin war sie entweder verhungert oder von der Aufregung zerfressen, jedenfalls außer Stande, Amber unbeschwert gegenüberzutreten – angenommen, sie verfolgte das Geschwafel hinter der mattbeigen Tür.
Lyd las zum vierten Mal hintereinander die Aushänge auf dem Flur und fühlte sich so elend wie in ihrer Botanikprüfung, sie hatte vor Aufregung so sehr gestottert, dass der Professor die ersten fünf Minuten aus seinem Privatleben erzählt hatte, um sie zu beruhigen: Gartenarbeit, ob sie das nicht auch möge, na sehen Sie, dann kennen Sie sich doch mit den Pflanzen aus. Bevor sie sich nun in ihrem eigenen Schweiß auflöste, stürmte sie unverrichteter Dinge aus dem sandsteinernen Fakultätsportal hinaus auf die Wiese.
Augenblicklich presste sich die Hitze an ihre klebrige Haut, so als müsste sie jeden erschlagen, der aus dem Gebäude trat. Lyd zog im Gehen die Wasserflasche aus dem Rucksack und sah sich um: Grüppchen der jüngeren Semester saßen im Schatten der Bäume und tauschten ihre Prüfungserlebnisse aus. Die Semesterferien standen vor der Tür, bereits ihre Ausläufer hatten das Universitätsgelände und die halbe Stadt leergefegt.
Du noch hier? Lyd fuhr herum, Oh, hallo Mareike, immer Mareike, diese fleißige Biene, bei allen Professoren hatte sie einen Stein im Brett, beste Klausur, beste Semesterarbeit, lobend erwähnt wurde einmal mehr Mareike Zimmer. Hallo Mareike, das ist aber schön! Ja, ich helfe bei der Organisation für die Summer School, die Schwarzstörche, nächste Woche habe ich das letzte Testat, dann fahre ich in den Urlaub (Ach schön, wo denn hin?), zuerst eine Woche zu den Eltern, dann einen Monat nach Italien (Italien, wow, du kommst ja wirklich rum in der Welt.), zwei Wochen arbeite ich dort auf einem Bauernhof, damit ich ein bisschen Geld verdiene, danach gehts zwei Wochen an den Strand.
Was für ein Unsinn, an das Mittelmeer zu fahren, dachte Lyd, während sie Mareikes Urlaubsplanung anhörte und ihr Fahrradschloss um das Sattelrohr wickelte, was für ein Unsinn, wenn man hier schon bei lebendigem Leib verbrennt. Für den Moment wünschte sie sich nichts sehnlicher, als dass es regnete, jedes Mittel war ihr recht, das die erdrückende Schwüle linderte. Wie Amber diese Temperaturen ertrug? Wahrscheinlich zerfloss sie hinter den Doppelfenstern und wünschte sich im Stillen die mexikanische Trockenheit anstelle der deutschen Sommerschwüle. Viel Spaß in Italien!, rief Mareike ihr zum Abschied nach.
Am Freitag Abend fand der Semesterabschlussball statt, die Plakate hingen seit einem Monat auf dem Campus und in der Stadt, manche waren schon heruntergerissen worden oder ausgebleicht. Die alten Ziegel des Hauptgebäudes erstrahlten in gelbem und blauem Scheinwerferlicht, als Lyd ihr Fahrrad auf das Gelände schob. Sie trug den gelben Rock ihrer Mutter und ein hellbraunes Top, Sandalen und die Kette aus Ebenholz, welche sie einem Weltenbummler in der Fußgängerzone abgekauft hatte.
Die Freunde hatten sich später angekündigt und Lyd genoss, dass sie niemand erkannte, sie kaufte sich eine Apfelschorle und spazierte zwischen den Bäumen umher. Bierwerbebanner hingen von Ast zu Ast, man projizierte Kringel und Schlierenmuster in die Baumkronen und bestrahlte die Stämme in künstlichem Grün. Ein Rauschen aus leichten Partygesprächen drang in den lauen Abend und wurde ab und zu von Gelächter unterbrochen. Über dem Grill, dem Getränkestand und den ersten Gästen verfärbte sich der Himmel langsam von mittel- nach dunkelblau.
Die Grüppchen redeten angeregt und warteten, bis eine ausreichend große Masse ihnen Schutz bot, damit sie hineingehen konnten und sich in dem verdunkelten Foyer nicht an den Wänden herumdrücken mussten. Lyd stellte sich dazu, Hey, ich bin Lyd, ja, vier Semester über euch, wart ihr nicht in meinem Tutorium über Sporenbildung? Ja, genau, wie läufts denn, wolltest du nicht längst fertig werden? Ach ja, das wird sich ein wenig verzögern, lachte Lyd und scherzte darüber, wie einem in den letzten Semestern die Luft ausgeht. Wenn sie aus den Augenwinkeln einen weißen Rock, ein weißes T-Shirt erspähte, fuhr sie unwillkürlich herum und die Leichtigkeit verflog aus ihren Studienanekdoten, nach denen die jüngeren Semester sie aushorchten.
Lyd setzte ein Lächeln auf und flanierte weiter. Amber war noch nicht gekommen, kein Grund sich aufzuregen, warum erwartete sie überhaupt, Amber hier zu treffen, warum hoffte sie hinter jeder Straßenecke, in jedem Café und auf jedem Uniflur, ihr zu begegnen? Die Freunde trafen ein, Küsschen, Umarmungen, Hi Lyd, du bist ja schon da, wie war dein Tag? Mit den Freunden startete die Party. Man konnte sich zurücklehnen, ein Wort ergab das andere und eh man sich versah, hielt man ein Bier in der Hand, wiegte sich auf der Tanzfläche, lachte, grölte die ewig gleichen Lieder und vergaß die Unsicherheit, mit der man angekommen war.
Amber war nirgends zu entdecken, stattdessen bemühte sich ein angeheiterter Uwe um ihre Aufmerksamkeit: Lyd, sieh das doch endlich ein, wir sind füreinander gemacht, begann er, setzte schwankend auseinander, dass sie nicht ewig vor ihren Gefühlen davonlaufen könne, er roch nach Alkohol und frischem Schweiß und bekräftigte seine Liebe so aufdringlich, dass Lyd ihn zusammengeschrieen hätte, wäre Anni nicht rechtzeitig eingeschritten. Behende schlüpfte sie zwischen die beiden und tanzte sich so eng an Lyd heran, dass Uwe seine Offensive aufgab. Scheiß Lesben, murmelte er und bemerkte mürrisch, dass in seiner Bierflasche nur noch ein schaler Rest schaukelte.
Anni strahlte, wie man es von ihr gewohnt war. Unter ihrem roten Top schauten Bikiniträger hervor, ihr weißer Rock wippte verführerisch, wenn sie von einer Ecke des Foyers in die andere schwebte, ihre Augen lachten und an den Ohren blitzten Paillettenohrringe mit einer Pfauenfederspitze darin. Sie zog Lyd an die Bar und bestellte Tequillas, Braun oder weiß?, Lyd stützte die Ellenbogen auf den Tresen und suchte nach Amber. Wer immer sich Salz, Zimt und Zitrusfrüchte dazu ausgedacht hatte, sie leckten, zutschten und tranken auf ihre Freundschaft, sie schüttelten sich nach dem Hochprozentigen, fielen sich in die Arme und taumelten zurück auf die Tanzfläche.
Wie in alten Zeiten!, rief Anni und legte ihre Hände um Lyds Hals. Sie warf die Haare in den Nacken und tanzte verlockend und wild. Lyd folgte ihren Bewegungen nur zaghaft, sie fand nicht recht in die Feierstimmung, Anni sei mir nicht böse, aber ich brauche erstmal ne Pause.
Gemeinsam zogen sie an der schweren Haupteingangstür und traten staunend an die frische Luft: Auf der Freitreppe nieselte es. Die Sandsteinstufen und Messinggeländer glänzten, das Gras spiegelte das bunte Licht aus dem Gebäude in tausend feinen Tropfen. Sie zogen die Sandalen aus und liefen in die Wiese, liefen voreinander davon zwischen den dunklen Bäumen, rutschten aus und fingen sich kreischend ein. Sprühregen legte sich auf ihre Haare und Kleider, außer Atem umarmten sie sich und streichelten sich die fröstelnden Schultern.
Du denkst an Amber, nicht?, flüsterte Anni. Lyd nickte und schwieg. Du bist die beste, seufzte sie nach einer Weile und drückte ihre Freundin fest an sich. Anni küsste sie auf den Mund, streichelte sie und löste sich von ihr, um die Sandalen zu suchen.
Riecht nach Herbst, dachte Lyd. Sie schob ihr Fahrrad barfuß durch die unbefahrenen Straßen. In den Lichterkegeln der Laternen glitzerten die Nieselfäden und zwischen den Kopfsteinen spritzen kleine Pfützen an ihren Knöcheln hinauf. Sie verdrängte die Stimme der Mutter, Kind, du wirst dich erkälten, und dazu noch nachts und allein unterwegs. Die Ampeln blinkten gelb und eintönig vor sich hin, Lyd legte den Kopf zurück und blickte in den Himmel, der mit pfeilschnellen Regentropfen nach ihr warf.
Was bedrückte sie überhaupt? Die Sommerferien begannen und sie war frei. Warum fühlte sie sich beklemmt, woher rührte diese Hoffnung, eine Gaststudentin würde sich in sie verlieben? Plötzlich verschwammen die Gedanken an Amber ins Unwirkliche, so als wären sie sich nie begegnet. Ich kann einfach nicht loslassen, stellte Lyd ernüchtert fest, schloss die Haustür auf und nahm sich vor, dem Vergangenen nicht länger nachzuhängen.
Mit diesem Entschluss kehrte die vertraute Sorglosigkeit in ihr Leben zurück, das Wochenende verflog über Büchern, zwei Filmen und einer Fahrradtour. Am Montag konnte sie unbeschwert dem Postboten öffnen – es musste der Postbote sein, der in der Frühe ein Paket für die Nachbarn ablieferte -, noch im Schlafanzug und in aller Seelenruhe vernahm Lyd seine Schritte auf der Treppe, bis sie auf den letzten Stufen Amber erkannte. Plötzlich schlug ihr Herz wieder bis an den Hals, ihr wurde heiß und kalt, als Amber sie umarmte und ihr ins Gesicht lachte: ¡Che Lyd, el verano nos espera!
ruebefrei - 25. Aug, 23:47
jetzt habe ich es durch, diese unertraegliche leichtigkeit. episodenhaft, mit viel scharfsinn und noch mehr philosophischem dazwischengequatsche kunderas. ihm werden wir das nachsehen, wenn er dafuer den finger wenigstens nicht tiefer in unsere mittelmaeßigkeit und gar in jene unseres selbsgefaelligen weltverstaendnisses bohrt.
ich habe auch so eine teresa, d heißt sie bei mir, auch sie versteckt ihre seele zwischen den daermen und wartet still, bis jemand die mannschaft an deck ihres koerpers ruft, damit sie die paradewimpel hissen. und in punkto eifersucht ist sie noch einen zacken schaerfer als teresa, obwohl ich unwuerdiges fremdgehwuerstchen einer solchen extrabehandlung gar nicht wuerdig bin.
das ausmaß einer ausschweifung, wie wir lernen, tut dafuer nichts zur sache, es unterhaelt nur eben und fuellt seiten, die dann wahrscheinlich fuer erotische kunst erklaert werden koennen, literarier wollen auch von etwas leben und faecheln sich wissend ihr zubrot zu.
ich waere gern tiefer eingetaucht in die welt von tomas und teresa, haette sie nicht nur in einer aneinanderreihung von schluesselszenen, sondern auch mal im urlaub, am strand (wohin sie nie kamen), in einer ruhigen minute (von denen ihr aufgewuehltes seelenleben ihnen noch die letzte stahl), zumindest aber einmal ausgeglichen erlebt, beide fuer sich und miteinander.
amour fou.
auf und ab, kreuz und quer durch die von identitaetshoehenlinien zerfurchten lande, und ja nie niemals einer meinung, wir kennen das schon. ich waere ihnen gern naeher gekommen, als kunderas nuechterne analysen das erlaubten, aber als autor ist es seine pflicht, seine kreaturen vor der allzu gefuehlsbeduselten sensationssucht eines millionenpublikums zu schuetzen und ihnen jenes recht auf intimitaet zu sichern, das er gerade durch die uebertrieben ruecksichtslose schilderung ihres privatlebens zu verletzen scheint, die leser aber im grunde mit dem skandaloesen blendet und sie vom eigentlich schuetzenswerten zwischen tomas und teresa fernhaelt.
dass du mir treu bist. wirst du es sein? ich werde mir alle muehe geben, und schon darin liegt mein scheitern begruendet, wenn wir aus dem paradies verstoßen wurden, wenn wir dem kitsch und der wiederkehr nachhaengen und das goettliche vor lauter scheiße vergessen, wenn uns rosettenmuskeln und die erniedrigung mehr erregen als eine liebe, die nicht fordert und nicht fragt, während wir die tiere, unsere letzte verbindung in das verlorene paradies, verachten und versklaven.
ich wuensche mir eine welt der leichtigkeit, in der das beethovenschwere "es muss sein!" von dannen grollt wie ein abendgewitter, das sich ueber europa abgeregnet hat. doch die dummheit zieht weiter, zieht mit dem groll und unterwirft sich tschechien, kambodia, die welt. in roten, blauen und weißen roecken tanzen die maedchen parolen, großer marsch statt osterspaziergang, und die traeumer (vierte und seltenste kategorie) trotten mit, ohne dabeizusein. wer sich auf der toilette einschließt, um sie alle nicht sehen zu muessen, verraet sich selbst und muss fortan von verrat zu verrat leben, gen westen und der leere nach.
nein, einen protagonisten gebaert man nicht aus einem konzept, einem vorsatz, einem plan: er entspringt diesem gefuehl eines unvollendeten gedanken, ruft seine freunde zusammen und beginnt seine eigene handlung, indem er jene moeglichkeiten durchlebt, die der arme autor verworfen hat (zeichnet doch auch er nur eine kurve entlang des geradlinigen zeitenstrahls, auf dem er nie die konsequenzen einer entscheidung erleben wird, die er ausgeschlagen hat).
alles, was er erlebt hat, und sei es noch so pedantisch dokumentiert (meine herren, ich danke ihnen schon einmal im voraus im namen aller zukuenftigen historiker und literaturwissenschaftler!), kann in seiner summe nicht im mindesten erklaeren, vorhersagen oder bestimmen, was tomas und teresa, geboren aus einer trostlosen wand in einem prager hinterhof und aus einem pechbestrichenen koerbchen, das man schutzlos auf dem großen fluss ausgesetzt hatte, nicht im mindesten jedenfalls vermag kundera aus seinem leben zu begruenden, welch verzehrende liebe diese zwei aneinander durchleben dürfen, müssen und durch seine worte ueberhaupt erst können. er muss sie bestaunt und bewundert haben, bis er leichten oder schweren, jedenfalls lächelnden herzens unter das manuskript tippte: ende.
ruebefrei - 11. Aug, 18:00